Freundlichkeit ist ansteckend
Kolumne aus dem Buch
Milo, der freundliche Tatverdächtige.
Erfinder haben kürzlich ein GPS-Halsband mit integriertem Telefon für Katzenhalter entwickelt, damit sie ihre entlaufenen Katzen orten und anrufen können. So ein GPS-Halsband wäre auch eine sinnvolle Anschaffung für mich und meinen Hund. Ich will ja nicht ständig mit der Polizei telefonieren müssen. Obwohl der Polizist nett wirkt, als er mich unverhofft mitten am Nachmittag auf der Arbeitsstelle anruft und damit einen wahren Schrecken einjagt: «Hier ist die Berner Kantonspolizei, sind Sie der Herr Baschung?» – «Wie meinen Sie das?» – «Sind Sie der Herr Baschung?» – «Meistens schon.»
Denn manchmal frage ich mich doch selber, wer ich bin. Ob ich noch immer derselbe wie früher oder bereits ein anderer geworden bin? Bei einem erwachsenen Menschen sterben in jeder Sekunde etwa 50 Millionen seiner Körperzellen. Wer weiss, wo dieser Abbau beginnt, was da von einem übrig bleibt und ob der Polizist dies bei seinen Ermittlungen in Erwägung zieht. Gerade will ich mit ihm über das Relative in meinem Sein diskutieren, da stellt er schon die nächste Frage: «Haben Sie einen Hund, der Milo heisst?» – «Im Prinzip schon», antworte ich vorsichtig. Ich will den Hund ganz sicher nicht verleugnen, aber zuweilen ist völlig unklar, ob wir einen Hund haben.
Oder der Hund uns.
Wie sich nun herausstellt, ist Milo einem Spaziergänger bis ins Nachbardorf begeistert nachgelaufen. Dort hat er, also der Spaziergänger, die Polizei angerufen, und die hat mittels implantiertem Identifikationschip mich als seinen Besitzer eruiert. Fragt sich nur, wie der Hund überhaupt dorthin gelangen konnte, wenn er sich daheim trotz angebotenen Leckereien nicht einmal in den ersten Stock hinauf- oder die Kellertreppe hinunter wagt. Wahrscheinlich durch Magie. Hat sich wohl durch die Hausmauer und dann den Gartenzaun gebeamt. «Es ist schon sehr fahrlässig von Ihnen», sagt nun der Polizist ziemlich verwundert, «dass Sie einfach die Terrassentüre offenlassen. Vor allem wenn Sie einen Hund besitzen, der jeden Einbrecher freudig begrüsst. Also ein Wachhund ist das nicht.»
Offenbar sind die Ermittlungen schon weit fortgeschritten. Das mit der Freundlichkeit stimmt, da hat er recht. Er ist zwar ein friedlicher Labrador, doch wie dieser Hund absolut jeden Menschen begeistert begrüsst und ihn einfach toll findet, unabhängig davon, ob er auf Gegenliebe stösst oder nicht, das ist doch nicht mehr normal.
In der freien Wildbahn hätte der keine Überlebenschance. Null. Gut, ich wahrscheinlich auch nicht. «Also ich glaube nicht, dass er das von mir hat», versuche ich mich beim Polizisten herauszureden, «und die offene Terrassentüre, woher wissen Sie dies überhaupt? Das ist eine reine Behauptung.» – «Ich stehe gerade davor.» Ich bitte den Polizisten, in diesem Falle gleich ins Haus einzutreten und sich in der Zwischenzeit einen Kaffee zu machen, in zehn Minuten sei ich daheim. «Aber aufgepasst vor der Kaffeemaschine, die macht mehr furchteinflössenden Lärm als der Hund.» Doch ins Haus hineingehen will er nicht, das entspricht wohl nicht den Dienstvorschriften. Er ziehe es vor, Milo im Garten den Holzstecken zu werfen, meint er, der sei ein ganz lieber.
Der Anblick, der sich mir bei der Ankunft zu Hause bietet, überrascht daher auch nicht mehr: Zwei bewaffnete Polizisten und der Spaziergänger stehen Kaffee trinkend (eine Nachbarin hat den Kaffee vorbeigebracht) und entspannt vor der Haustüre. Milo fröhlich mittendrin, statt mit seiner Leine mit einem rot-weissen Polizei-Sperrzone-Band fixiert, was ihm farblich noch ganz gut ansteht. Seine Freundlichkeit ist offensichtlich ansteckend.
Ich freue mich jedenfalls auch sehr – jedenfalls bis zum Zeitpunkt, als der Polizist die Ordnungsbusse ausstellt.